
BAND 3
LESEPROBE
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KÜNSTLERWELT
Johann geht durch das verschneite Berlin, der kalte Ostwind bläst ihm ins Gesicht. Langsam wird es dunkel. Viele Menschen sind auf den Straßen unterwegs. Um seinen Kopf ist ein Tuch gewickelt, das von einem alten Filzhut festgehalten wird. Seine Hände sind klamm vor Kälte; die linke hält er schützend vor seinen bloßen Hals, mit der rechten trägt er eine große Holzschachtel. Immer wieder rutscht der Umhang von seinen Schultern. Trotz wollener Strümpfe dringt die Kälte in seine Lederschuhe ein. Johann ist dennoch bester Laune.
Alles hatte im Spätherbst mit einem Botengang von Potsdam nach Berlin begonnen. Der Posamentiermeister hatte ihn beauftragt, ein wertvolles Kostüm bei einem Sänger der Königlichen Hofoper abzuliefern. Früh morgens hatte ihn sein Meister zur Postkutsche begleitet, den Kutscher gebeten, ein Auge auf Johann und die ungewöhnliche Fracht zu haben und Johann nochmals aufgefordert, die genaue Wegbeschreibung zur Wohnung des Sängers in der Friedrichstadt zu wiederholen. Aufgeregt war Johann losgefahren. Den klangvollen Namen des Hofsängers, Paolo Bedeschi [sprich: Bedeski], hatte er unterwegs oft wiederholt, um ihn nicht zu vergessen.
In Gedanken war Johann den Ablauf des Treffens, die Ankunft, eine zügige Übergabe des Kostüms und die Verabschiedung durchgegangen. Würde der berühmte Hofsänger ihn überhaupt wahrnehmen? Wie nervös war Johann doch gewesen! Seine Begegnung mit Paolo Bedeschi war jedoch ganz anders verlaufen, als er erwartet hatte. Nie würde er die herzliche und überschwängliche Begrüßung in dem fremdartigen Akzent vergessen!
Der Sänger hatte sich gleich erkundigt, wie er hieße, ob er handwerklich bewandert sei und zur Fertigstellung des Kostüms beigetragen habe. Als Johann letzteres bejahte, hatte Paolo Bedeschi begeistert verkündet, er wolle eine Anprobe vornehmen, dann könnten kleine Änderungen gleich ausgeführt werden. Ob er denn das nötige Handwerkszeug bei sich trage? Schüchtern hatte Johann geantwortet, er habe nur Nadel und Faden mitgebracht. Da hatte sich Paolo Bedeschi theatralisch an die Stirn gefasst und gelacht: Ja, der Posamentiermeister könne ihn wohl kaum mit einer Auswahl von Gold- und Silberfäden nach Berlin geschickt haben – dann sei er nur ein gefundenes Fressen für Räuberbanden!

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IM SCHLOSS
»So komm«, Madame R. winkt Leonie zu sich heran, »wir sollten die Zeit, die wir hier alleine sind, für uns nutzen.« »Aurelia von Rathen, was für ein schöner Name … und ich soll mit in die Oper kommen?« »Es ist eine glückliche Fügung, Leonie, denn sonst hätte ich dich alleine zurücklassen müssen. Dabei wäre mir nicht wohl gewesen.« »Und mir erst recht nicht …« »Ich nehme dich mit in mein Gemach«, unterbricht sie Madame R. konzentriert. »Davor sollte die Partitur transportsicher gemacht werden. Die Reiseöfchen müssen befeuert werden. Ob Schlitten oder Kutsche, diese Entscheidung steht noch aus. Ich werde den Oberhofmarschall und den diensthabenden Kammerherrn informieren. Wir kümmern uns dann um winterfeste Kleidung für den Ausgang.«
»Madame R., wie soll ich dich jetzt nennen?«, fragt Leonie zögerlich. »Wenn wir unter uns sind – was sicherlich selten der Fall sein wird – bin ich für dich Madame R. und ›du‹. Wenn nicht, siezt du mich, aber niemals direkt.« »Wie meinst du das?« »Du verwendest das Wort »Sie« nicht, sondern sagst: ›Wünscht Madame etwas Konfekt?‹« »Du meine Güte, so gestelzt? …« »Was heißt hier gestelzt? Keineswegs! So spricht man sich an, meine Liebe. Gewöhne dich dran!« »Ich werde mich bemühen …« »Ah, fange keinen Satz mit ›ich‹ an, Leonie. Man stellt sich selbst nie in den Vordergrund.« Leonie zieht ihre Augenbrauen zusammen. »Sieh’ mich nicht so finster an, Leonie.«
Leonie seufzt und verändert ihre Miene nicht. Madame R. überlegt kurz. »Leonie, die Zeit ist reif für deinen ersten Unterricht in der Etikette«, hebt sie lächelnd an. »Wie verhältst du dich gegenüber höherstehenden, ich meine, im gesellschaftlichen Rang höherstehenden Personen? Erstens: Halte dich immer mindestens fünf Schritte von ihnen entfernt. Zweitens: Gehe ihnen nur hinterher, niemals voraus, es sei denn, du wirst gebeten, sie irgendwohin zu führen. Drittens: Spreche sie niemals als Erste an; warte, bis du angesprochen wirst. Viertens: Wenn du angesprochen wirst, signalisierst du Bereitschaft zur Entgegennahme des Befehls, indem du deinen Oberkörper leicht nach vorne beugst, dabei die rechte Hand sanft an deine Brust legst, aber nur fast, die linke nach hinten ausführst … «

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